Stell dir vor du bist eine Frau, die auf Tinder nach der großen Liebe sucht. Es ist einer dieser Abende. Du kommst von deinem stressigen Job nach Hause in deine kleine Wohnung, drehst die Musik auf und lässt den Tag Revue passieren. Die endlos langen Meetings haben dich geistig völlig ausgelaugt. Vielleicht arbeitest du im Marketing, im Consulting oder bist Grafikdesignerin. Du lässt Badewasser ein und machst dir eine Flasche Wein auf, um endlich mal deinen Kopf auszuschalten. Du hast heute nichts mehr vor. Deine Freundinnen sind alle in Beziehungen, manche haben schon Kinder, aber du bist schon ewig Single.
Du greifst nach deinem Smartphone und öffnest die Tinder App. Single Männer aus deiner Umgebung werden dir angezeigt. Und da ist er auf einmal:
Ein dunkelhaariger Mann mit Drei-Tage-Bart und teuren Designerklamotten. Großkotzig post er in Sportwagen, sitzt in der Business Class oder gleich im Privatjet. Isst in teuren Restaurants. Der Typ scheint in Geld zu schwimmen. Kurz überlegst du, ob es sich dabei um einen Fake handelt. Doch er hat seinen Instagramaccount verlinkt. Du bist neugierig und checkst den Account aus.
Er hat über 100.000 Follower. Auf seinen Bildern und Videos stellt er seinen Reichtum und seinen protzigen Lebensstil offen zur Schau. Er sieht nicht überdurchschnittlich gut aus, aber durch seine extravagante Kleidung und diesen Jetset Lifestyle fällt er auf. Vor allem aber bist du dir jetzt sicher, dass der Kerl echt ist. Schließlich sind seine Instagram Storys und die Videos voll mit Fotos wo er redet. Das ist nicht irgendein Fakeaccount von jemandem, der einfach nur Bilder aus dem Internet geklaut hat. Den Kerl gibt es wirklich.
🔥 It’s a Match
Aus reiner Neugier swipst du nach Rechts – und du hast ein Match!
Du hast gerade wirklich diesen Millionär Playboy gematched und sofort schreibt er dich an.
„Ich bin nur noch heute in München“ oder Berlin, Frankfurt, Amsterdam – je nachdem wo du wohnst.
„Lass uns einen Kaffee trinken gehen, ich bin im Four Seasons – Ich schicke dir einen Fahrer“ – Er kommt so schnell zur Sache, dass du kaum Zeit hast darüber nachzudenken.
Du triffst dich mit ihm. In einem noblen Hotel lässt er dich warten. Dann endlich taucht er auf. Er ist kleiner, als du dachtest und der riesige Typ neben ihm lässt ihn noch kleiner erscheinen. Er wird dir den Mann an seiner Seite später als seinen Bodyguard vorstellen, denn er lebt gefährlich.
Der Mann, mit dem du dich getroffen hast stellt sich als Simon Leviev vor. Vielleicht hast du zu Hause schon gegoogled, nachdem du auf seinem Instagram warst. Lev Leviev der vermeintliche Vater von Simon ist einer der reichsten Männer Israels, ein Diamantenhändler. Doch Simon erzählt, er habe mit seiner Familie gebrochen und sei nun eigenständig als Geschäftsmann im Diamantenbusiness tätig. Doch dieses Geschäftsfeld ist gefährlich…
Simon Leviev wirft mit Geld um sich. Er bestellt die Karte rauf und runter, lädt dich zu teuren Drinks und Champagner ein. Ihr bleibt in Kontakt. In den nächsten Wochen schreibt er dir immer wieder. Er lädt dich in seinen Privatjet ein, schickt dir Selfies und Videos oder seinen Standort von überall auf der Welt. Er überzeugt dich von seiner Geschichte und liefert viele vermeintliche Beweise für die Korrektheit dieser Story.
🎢 Die emotionale Achterbahn beginnt
Doch dann ändern sich die Dinge. Simon wird von seinen Feinden verfolgt. Er schickt dir Bilder auf denen er und sein Bodyguard verletzt in einem Krankenwagen sind.
Er erzählt dir von seinen Feinden. Es kommt zu einem Wechselbad der Gefühle. Mal setzt er alles daran, mit dir zusammenzusein. Er lässt dich extra irgendwo hin fliegen oder bittet dich nach Wohnungen für euch beide zu Schauen. Er ist mitfühlend und interessiert sich für dich. Aber dann spricht er wieder von seinen Feinden.
Irgendwann bittet er dich eine American Express Kreditkarte abzuschließen und sie ihm zu geben. Nur so, sagt er, könne er seine Spuren soweit verschleiern, dass seine Feinde ihn nicht finden würden. Und du tust es. Natürlich tust du es. Du liebst diesen Mann und hast keinen Grund daran zu zweifeln, dass er dir das Geld zurück überweist. Schließlich ist er steinreich. Oder etwa nicht?
Simon Leviev hieß ursprünglich Shimon Hayud und steht in keiner Verbindung zum Unternehmer Lev Leviev. Der heute 31 jährige hatte seinen Namen in der Vergangenheit zu Simon Leviev geändert und sich die ganze Geschichte ausgedacht.
Der Mann, der inzwischen als „Der Tinder Schwindler“ bekannt wurde, hat ein Freundinnen-Schneeballsystem gebaut, bei dem er jede um Geld bat um damit neue Freundinnen in seinen Funnel zu holen.
Vor etwa zwei Jahren habe ich das erste Mal von Simon Leviev gehört. Der Mann, über den Netflix vor kurzem einen dokumentarischen Film herausgebracht hat: Der Tinder Schwindler.
Ich habe eine Schwäche für Hochstapler. Seit jeher faszinieren mich diese Menschen. Sei es Victor Lustig, Frank W. Abagnale, P.T. Barnum oder in der jüngeren Generation Simon Leviev oder Anna Delvey.
Ich frage mich dann immer: Was hätten diese Menschen auf legalem Weg mit ihrem Talent anstellen können? Denn, dass sie eine Begabung haben, steht außer Frage. Sie sind meistens extrem charismatisch und das obwohl sie häufig nicht mal überdurchschnittlich gut aussehen.
🤩 Was macht das Charisma von Hochstaplern wie Simon Leviev aus?
Was mich besonders fasziniert ist, dass sowohl Anna Delvey als auch Simon Leviev keine überdurchschnittlich gut aussehenden Menschen sind.
Ich meine das gar nicht abwertend oder beleidigend. Sie sehen beide ganz normal und durchschnittlich aus. Doch es sind eben keine Menschen, die einem in einer vollen Fußgängerzone auffallen würden oder nach denen man sich umdreht, wenn sie an einem vorbei gehen.
👩🏻🔬 Was sagt die Wissenschaft dazu?
Laut einer Studie von Kulka und Kessler aus dem Jahre 1978 hat das Aussehen von Beschuldigten vor Gericht einen enormen Einfluss auf das Strafmaß.
Die Wissenschaftler verglichen Fälle vor Gericht und teilten die Fälle in zwei Gruppen ein:
- Gruppe A: Das Opfer sah besser aus, als der Täter
- Gruppe B: Der Täter sah besser aus, als das Opfer
Durchschnittlich wurden die Verurteilten der Gruppe A zu Geldstrafen in Höhe von 10.051$ verurteilt, die Verurteilten der Gruppe B lediglich zu Geldstrafen in Höhe von 5.623$.
Besser auszusehen zahlte sich also aus. In diesem Fall machte es einen Unterschied von durchschnittlich 4.428$ aus.
Darüberhinaus fanden Daniel S. Hamermesh und Jeff E. Biddle 1994 heraus, dass besser aussehende Arbeitnehmer im Schnitt 12-14% mehr Gehalt verdienten, als ihre weniger gut aussehenden Kolleg:innen.
Ein Grund dafür kann der so genannte Halo-Effekt sein. Dieser beschreibt das Phänomen, dass wir Menschen die gut aussehen häufig auch andere gute Eigenschaften zuschreiben. Wir halten sie oft für kompetenter, intelligenter und erfolgreicher.
Fast alle Frauen, die sich zu Simon Leviev geäußert haben, sagten als erstes (sinngemäß) „Er war auffallend klein“. Und obwohl Frauen das häufig als optisches No-Go bei Männern angeben, scheint Leviev wenig Probleme gehabt zu haben Frauen für seine Masche zu gewinnen.
Er muss also irgendwas an sich gehabt haben, das über diese „Nachteile“ hinwegtäuscht.
🦚 Das Handicap Prinzip und fälschungssichere Merkmale
Sicherlich können wir hier ein Stückweit das Handicap-Prinzip heranziehen.
Hierbei handelt es sich um ein evolutionäres Gesetz, das Lebewesen, die über einen offensichtlichen Nachteil verfügen attraktiver macht. Weil dieser „Nachteil“ ein fälschungssicheres Merkmal für ihre Überlebenschancen ist.
Ein gutes Beispiel für diese Idee ist der Pfau. Er hat so viele übergroße Federn, dass er es schwer hat vor Feinden davonzulaufen und überall auffällt. Eigentlich hätte er aus Sicht der klassischen Evolutionstheorie schon lang aussterben müssen oder sich zumindest so entwickeln müssen, dass er weniger große Federn hat.
Das ist aber nicht passiert. Viel mehr handelt es sich bei den übergroßen Federn, die ihm das Leben schwer machen um ein fälschungssicheres Merkmal.
Das bedeutet ein Pfauen-Weibchen denkt sich: „Wow der kann sich mit den Federn kaum bewegen, trotzdem wurde er noch nicht gefressen. Das ist ein fälschungssicherer Beweis dafür, dass er sehr schlau und fit sein muss. Das finde ich sexy!“
So funktionieren auch Statussymbole. Sie sagen uns: „Dieser Mensch hat so viel Geld für etwas total unnötiges Ausgegeben. Er muss WIRKLICH reich sein, sonst könnte er das nicht“
Auch ein offensichtlicher optischer Nachteil kann ein fälschungssicheres Merkmal sein und dem Träger zu einem Vorteil verhelfen. Sehen wir einen Mann, der nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht, mit einer sehr attraktiven Frau, denken wir automatisch: „Der Typ muss irgendwas an sich haben, sonst würde sie ihn nicht wollen“. Manche Menschen denken dann, dass die Person wohl reich oder berühmt ist und es sich bei der Frau um einen Golddigger handeln muss. Das ist natürlich sehr oberflächlich. Manchmal haben solche Menschen auch einfach eine attraktive Persönlichkeit. Ganz egal was es ist: durch den „offensichtlichen Nachteil“ wird die Attraktivität verstärkt.
🤴🏻 Statussymbole sind fälschungssichere Merkmale
Simon Leviev arbeitet sehr geschickt mit Statussymbolen.
Das ganze Tinder-Swindler Game ist eine meisterhafte Inszenierung von Statussymbolen. Teure Uhren, Designerkleidung aber auch Hotelsuiten und Privatjets sind bei Menschen die großen Pfauenfedern. Ein Statussymbol wirkt umso stärker, je weniger Nutzen es hat.
Eine Rolex für 20.000 Euro zeigt die Zeit nicht besser an, als eine Uhr für 9,99 Euro. Sie schreit aber ganz laut: „Ich bin so reich, dass es mir egal ist, dass diese Uhr keinen Nutzen hat“.
Dadurch, dass der Träger des Statussymbols das Geld so sorglos herausballern kann, halten wir es für umso wahrscheinlicher, dass er wirklich reich ist und nicht nur so tut.
Aus der Geschichte von Simon Leviev entnehmen wir, dass viele Frauen auf diesen Trick hereingefallen sind. Das hat gar nichts mit Oberflächlichkeit oder Golddigger Mentalität zu tun. Ganz im Gegenteil. Ein Golddigger hätte dem Tinder-Schwindler niemals Geld gegeben. Bei den Opfern handelt es sich um ganz normale Frauen, die manipuliert und psychisch ausgetrickst wurden. Sie waren nicht naiv oder dumm. Jede:r hätte auf diese Masche hereinfallen können.
🎰 It’s a Numbers Game
Trotz allem wird dieser Typ Tinder komplett durchgeswiped haben müssen, um genug Frauen zu finden.
Auf Tiktok bin ich in den letzten Tagen auf einigen Videos von Frauen gelandet, die mit ihm Kontakt hatten. Diese Frauen haben sich erst jetzt gemeldet. Möglicherweise, weil sie lange gar nicht wussten, dass sie mit einem vermeintlichen Betrüger* Kontakt hatten.
Das liegt vor allem daran, dass natürlich nicht jede Frau auf seine Masche reingefallen ist. Manche haben sich ein oder zwei Mal mit ihm getroffen und dann flachte der Kontakt ab.
Einer meiner Instagram Follower @thedutchglobetrotter hat auf Instagram vor ein paar Tagen einige Nachrichten von Frauen in seiner Story geteilt. Die Frauen waren größtenteils Flugbegleiterinnen, die davon berichteten dass sie von Simon Leviev über Instagram kontaktiert wurden. Zum Beispiel, nachdem sie Fotos von sich unter Hashtags wie #FlySwiss oder ähnliches geteilt hatten.
Auch solche Berichte halte ich für absolut glaubwürdig. Wie schon erwähnt, muss der Kerl einfach eine schiere Masse an Frauen kontaktiert haben, um überhaupt ein Date auszumachen. Und auch nicht jedes Date führt dazu, dass die Frauen ihm direkt mehrere Tausend Euro schicken. Er hat also einen hohen Streuverlust. Was dazu führt, dass er non stop Frauen akquirieren muss, um genügend Dates zu haben und dass er ständig auf Dates gehen muss, um Frauen rauszusieben, die bereit sind ihm eine American Express zu überlassen.
Aus Online Marketer Sicht kann man hier sagen: Der Kerl hat einfach einen Funnel gebaut.
* Da Leviev meines Wissens nach nie für den Betrug an den Frauen verurteilt wurde, bin ich mit dieser Bezeichnung hier vorsichtig.
🪝 Der Hook
Der Klassische Betrug besteht aus mehreren Phasen. Zunächst einmal investiert der Betrüger in das Opfer, damit es Vertrauen aufbaut.
Der Tinder Schwindler muss also in Vorleistung treten. Er lädt Frauen zum Essen ein, macht ihnen teure Geschenke, nimmt sie im Privatjet mit.
Das schafft das Vertrauen, das er für spätere Phasen braucht.
Andere Betrugsfälle (Bernie Madoff oder Mister Money Jürgen Harksen) funktionieren nach einem ähnlichen Prinzip. Das Opfer vertraut dem Betrüger Geld an. Zunächst eine kleine Summe vielleicht 1.000 Euro, da es noch kein großes Vertrauen hat. Der Betrüger behauptet das Geld sicher anzulegen und zahlt dem Opfer dann aus eigener Tasche zum Beispiel 10.000 Euro zurück. Das Opfer hat nun den „Beweis“, dass der Anlage-Guru tatsächlich über höchst wertvolles Insiderwissen verfügt und traut sich nun größere Summen zu investieren. Doch diese sind dann verloren.
Die Frauen erhalten neben dem materiellen Beweis für Simons Reichtum, aber auch emotionales Investment. Das macht das ganze System noch perfider und noch schwerer auszusteigen.
❄️ Das Schneeballsystem des Simon Leviev
Inzwischen sollte jede:r gemerkt haben, wie das Spiel funktioniert. Simon Leviev nimmt das frische Geld derer, die in ihn „investiert“ haben um damit neue Frauen zu ködern. So kennt man es auch von anderen klassischen Schneeballsystemen. Hier sei noch mal der Vergleich zu Bernie Madoff oder der Billionaire Boys Club gezogen.
💸 Das ist ein 100 Stunden Job
Ich will ihn nicht in Schutz nehmen. Doch dieses „Game“ muss ein 100 Stunden Job sein. Sicherlich kann man sich schlechtere Jobs vorstellen (von der moralischen und rechtlichen Komponente mal ganz abgesehen), als die ganze Woche in Fünf Sterne Hotels zu wohnen, in teuren Restaurants zu speisen und um im Privatjet um die Welt zu jetten. Doch wenn man es mal runterbricht:
- Ein großer Teil des Umsatzes muss wieder in das System fließen, um die Kosten der neuen „Hooks“ zu finanzieren. Im Marketing würden wir von Lead Generierung sprechen. Jeder Lead („Kundenkontakten“) hat Akquisitionskosten von mehreren Tausend Euro.
- Von diesen Leads wird aber nicht jeder wieder 250.000 Euro oder mehr in das System reinpumpen. Wir wissen nicht wie hoch die Erfolgsquote ist, dass eine angeworbene Frau überhaupt so lange im System bleibt, dass sie selbst Geld reinschießt.
- Vielleicht ist eine aus 10 Frauen „bereit“ Geld in das System zu schießen, vielleicht nur 1 aus 100. Gehen wir von jeder 10. Frau aus, die im Schnitt wieder 100.000 Euro in das System reinsteckt, so hat jeder konvertierte Lead einen Return on Investment (ROI) von 10.000 Euro.
- Um Break Even zu sein, dürfen bei der Akquisition von neuen Frauen also nicht mehr als 10.000 Euro pro Frau an Akquisitionskosten anfallen.
- Simon möchte aber nicht Break Even sein! Er hat Kosten für ein Team und möchte vielleicht noch etwas Geld bei Seite schaffen! Entsprechend werden die realen Cost per Lead deutlich geringer sein müssen. Alternativ ist der durchschnittliche Return on Investment höher oder die Conversionrate besser.
So oder so muss der gute Simon Leviev eine Menge Zeit und Arbeit in die Akquise stecken.
Es ist durchaus realistisch, dass er bei dem System gute 100 Stunden in der Woche investiert hat.
Wieder drängt sich hier die Frage auf: Könnte er sein enormes Organisationstalent, seine Kreativität und sein Charisma nicht auch in etwas Legales stecken?